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Als wäre es gestern gewesen…

wortspende
Schreibeinladung für die Textwochen 04.05.19 | Wortspende von Myriade

3 Begriffe in maximal 300 Wörtern


Die Tochter weiß sofort, dass sie jetzt die Position der starken Frau übernehmen muß.
Ihre Mutter hängt ängstlich zitternd und zu keinem klaren Gedanken fähig an ihrem Arm. Gemeinsam betreten sie die Wohnung und rufen sofort nach ihm, ahnen aber, dass sie keine Antwort bekommen werden. Ihr Blick geht in die Küche, deren Tür wie immer offen steht. Hier ist es ordentlich und unordentlich zugleich. Die meisten Dinge sind an ihrem Platz, aber ein paar Töpfe und Salatschüsseln stehen verstreut auf dem Fußboden und gebrauchtes Geschirr auf dem Herd.
Die Mutter zerrt sie ins Wohnzimmer, dessen Anblick alarmierend wirkt. Alle Türen der Schrankwand sind geöffnet. Papiere liegen in wildem Durcheinander auf dem Teppichboden. Hier und da Fotos dazwischen. Das Schlimmste aber: Sein Ehering ruht auf der seidigen Unterlage des geöffneten Schmuckkästchens. Warum?
”Ich habe solche Angst! Bitte, kannst du in die anderen Räume sehen?”, fleht die Mutter sie an.
”Ja Mutti! Gib mir deine Hand, wir machen das gemeinsam.”
Die Tochter öffnet Esszimmertür und Schlafzimmertür. Beide Räume sind leer. Sie nimmt all ihren Mut zusammen, zählt still bis drei und öffnet die Badezimmertür. Leer.
Sie ist so froh.
Doch schon drängt die Mutter sie, in den letzten kleinen Raum zu schauen, der noch übrig ist, wagt es aber nicht, in der Nähe zu sein und flüchtet in die vermeintliche Sicherheit des Wohnzimmers zurück.
Die Tochter tritt vor den Raum, legt die Hand auf die Türklinke und zwingt sich, diesen letzten Blick zu riskieren. Nach endlosen Sekunden öffnet sie die Tür.
Ganz schnell schließt sie sie wieder.
Sie rennt zu ihrer Mutter, nimmt sie in die Arme und fleht weinend: ”Bitte setz dich! Du mußt jetzt ganz stark sein!”
Es ist der Nachmittag des 24. Januar 1989.
Ihre Mutter ist jetzt Witwe und sie selbst hat keinen geliebten Stiefvater mehr.

16 Antworten auf „Als wäre es gestern gewesen…

    1. Leider selbst erlebt. Jedes Jahr am 24. Januar ist es schwer. Und nach 30 Jahren ist es noch immer so real. Da ich nie viel darüber gesprochen habe, hat mir das Schreiben vielleicht etwas bei der Aufarbeitung geholfen. Es gibt Dinge, die trägt man bis ans Ende seiner Tage mit sich rum.

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      1. Nein, leider nicht. Ich hätte alles dafür gegeben, das Geschehene ungeschehen zu machen. Er war der beste und liebste Mensch, den wir alle kannten.

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    1. Es war genau der 30. Jahrestag. Und es fühlt sich noch immer so an, als wäre esgestern gewesen…
      Ich danke dir für dein Lob.
      Viele Grüße zurück, Berta

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      1. Sogar das. Ich denke, aufschreiben hilft unheimlich. Zum einen ist es was zum „Festhalten“, macht die Gedanken so „anfassbar“…ich weiß nicht, ob du weißt, was ich meine. Andere teilen sich mit, fühlen mit…. Diese (deine) Geschichte wohnt jetzt im Web und hilft vielleicht mal jemandem, der sie liest. Oder es ist jemandem ähnlich ergangen und es entsteht ein Kontakt.
        Die verrückteste Story meines Lebens „lebt“ auch im Web … und bekam eines Tages eine völlig unverhoffte Resonanz.
        Winke, winke!

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